Wir
hatten seit mehr als dreißig Jahren nicht voneinander gehört,
als das Telefon klingelte und M. mich unvermittelt fragte, ob
ich ihm den Gefallen tun könnte, ihn vom Krankenhaus abzuholen
und ihn "endlich nach Hause zu bringen", wie er sich ausdrückte.
Als ich den Wagen stoppte, wie von ihm angewiesen, standen wir
vor einer Villa - ehemals die seiner Eltern -, und er dankte
mir und verabschiedete sich mit den Worten, er wollte eigentlich
seine Wohnung niemals wieder betreten, aber ... Mit einem Achselzucken
stieg er aus dem Wagen. Das ereignete sich zwölf Monate nachdem
er seinen Selbstmordversuch überlebt hatte. Von dem ich erst
während dieser Fahrt erfahren hatte. Noch nie sprach jemand
so offen zu mir, wie M. auf jener Autofahrt. Ich fühlte mich
ihm näher denn je. Er müsse jetzt viel nachdenken sagte er mir,
"Nicht jeder bekommt eine zweite Chance!" Damit hatte er verdammt
recht, doch gleichzeitig grinste er dabei so ungläubig, dass
es mir schwer fiel, ihm abzunehmen, dass er daran wirklich glaubte.
Vielmehr schien seine Mimik sagen zu wollen: "Mal sehen, wie
lange ich es diesmal durchhalte!" Als ich losfuhr, nachdem ich
noch einige Minuten still verharrend im Wagen über seine Worte
nachgedacht hatte, sah ich noch, wie er dabei war sämtliche
Vorhänge und Jalousien zuzuziehen. In dieser Nacht geschah ihm
das Unverhoffte.
»A
Genesis«
M.,
The Gamer, B.B.
1. Closed Paradise
Der Aufenthalt in der Rehabilitations-Klinik
dauerte beinahe ein Jahr. Man hat sich sowohl körperlich
als auch mental fürsorglich um M. gekümmert und ihn
letztendlich als psychisch stabil eingestuft entlassen. Es war
eine anstrengende Zeit und M. fühlt sich immer noch leer,
allerdings auch irgendwie erleichtert, obgleich er keine Ahnung
hat, was er nun mit dem wiedergewonnen Rest seines Lebens anfangen
soll. Das mit dem Glück und dem Schmied haben sie ihm in
der Therapie zur Genüge versucht klar zu machen, doch das
war ihm doch nichts Neues, es kam ihm so alt und so verdammt
bekannt vor. Und sobald er darüber nachdachte, tat sich
ihm wieder der Spalt auf zwischen Einsicht und Handeln, zwischen
Philosophie und Leben. Für ihn steht nur eines fest, dass
er an sein altes Leben nicht wieder wird anknüpfen können.
Er
legt seine Sachen ab und schließt als erstes die Fensterläden
seines alten, neuen Zuhauses, das ihm gänzlich fremd
erscheint. Er lässt alle Jalousien herunter und, als
sei es noch nicht genug, zieht er sämtliche Vorhänge
vor die mannshohen Fenster. Die alte Villa hat ihm schon immer
Angst oder zumindest Respekt eingeflößt. Heimisch
hat er sich hier nie gefühlt. Auch nicht damals, als
er noch zu Besuch hierhergekommen war. Zumeist in den Ferien,
für einige Tage, immer dann wenn seine Eltern für
sich sein wollten. Da er sie nun alle überlebt hatte,
sowohl seine Eltern, als auch seine Großtante, die letzte
stolze Besitzerin des Anwesens, konnte er sich Eigentümer
dieses herrschaftlichen Hauses bezeichnen. Wohl fühlt
er sich dennoch nicht. Als Erbe beschleicht ihn sowieso stets
das Gefühl einer Spezies der Schmarotzer anzugehören.
Er hat es sich nicht verdient, hier zu leben, was er aber
auch zu keiner Zeit angestrebt hatte. Auffallend ist, mittlerweile
stört er sich an derlei Dingen kaum noch ernsthaft. Vieles
in seinem Leben war nicht so gelaufen, wie er sich das vorgestellt
hatte. Man gewöhnt sich daran. Und im Vorstellen, da
war er schon immer Weltmeister gewesen. Er denkt ungern zurück,
an die ganzen Spinnereien und Utopien, die er sich ausgemalt
hatte, von einer gerechten und vernünftigen Welt und
einer Menschheit, die von der reinen Wissenschaft geleitet
im Jahre 2050 schließlich friedfertig auf dem Mond in
phantastischen Glaskugeln wohnen würde und mit ihren
Kindern jeden Sonntag einen Ausflug zu den berühmtesten
Kratern machen würden. Fortschritt galt ihm da noch als
Verheißung. Er war das Versprechen auf eine bessere
Zukunft. Doch mehr als Sentimentalität war nicht daraus
geworden.
Es
war beschlossene Sache, und eigentlich das Resultat seiner
lange andauernden Grübelei, gegen sein eigenes Leben
und sich selbst. Er will sich dieser Prozedur nicht länger
aussetzen, nicht länger nachdenken, endlich seinen Frieden
finden: Er kehrt nun endgültig der Welt dort draußen
den Rücken. Er will sich allem weiteren Scheitern verweigern.
Weltverweigerung scheint seine noch einzig verbliebene Motivation
zu sein, angesichts der gescheiterten Utopien, und einer offensichtlich
dem Schwachsinn verfallenen Menschheit. Die Welt hat ihn nicht
weniger als um sein Leben betrogen, weshalb sollte er noch
einmal einen Schritt nach draußen, auf sie zugehen?
Er wollte es deswegen schon beenden, und wenn es nun sein
Los war, weiter machen zu müssen, dann in seiner eigenen
Welt, in der er der Held ist! Es gibt niemanden, dem er noch
verbunden ist. Es ist gewiss auch zum Teil seiner bevorzugten
Situation geschuldet, in die die unerwartete Erbschaft ihn
gebracht hat. Und die es ihm erlaubt, sich abzuwenden. Er
ist versorgt bis zu seinem Ende, wenn er nicht große
kapitalistische Fehler begehen würde. Und gleichzeitig
ist es so etwas wie der Vorschuss für sein Ende. Er sitzt
im gemachten Nest, in einer sicheren, behüteten Welt.
Und ja es stimmt, noch nie zuvor ging es der Menschheit so
gut wie heute, - aber ist die Utopie seiner Generation deshalb
schon aufgegangen? Noch nie erschien ihm die Welt auch so
irre, und er konnte sich, gemessen an den äußeren
Umständen, selbst noch zu den Glücklichsten zählen,
denen es unverschämt gut ging! Weswegen, ist er es dann
nicht? Was hindert ihn glücklich zu sein? Alle diese
Widersprüche lähmten ihn, machten ihn selbst irre
und hinderten ihn irgendetwas zu tun. Es sind die unauflösbaren
Wiedersprüche, die er schon einmal glaubte, nicht mehr
aushalten zu können. Sollte er sich deswegen schämen?
Konnte er selbst etwas dafür? Verpflichtete ihn der Vorzug
seiner Geburt und Existenz zu irgendetwas? Jede Generation
ist eine geworfene, in eine Welt, die sie selbst ja nicht
gemacht hat. War es etwa seine Entscheidung - 1964 -, auf
diese Welt zu kommen? Keineswegs will M. ungerecht sein, denen
gegenüber, die es nicht so gut getroffen hatte. Aber
auch das lag außerhalb seines Verantwortungsbereiches;
der - und das ist ihm wahrscheinlich das Schlimmste - ihm
immer mehr abhandenkam. Er ist und war nun einmal ein männliches,
westliches, weißes Kind aus einer wohlbehüteten
Kinderstube - ganz ohne sein Zutun. Und hat er es nun versaut?
M.
greift zum Telefon und bestellt sich noch etwas zu essen.
Dann setzt er sich an seinen Computer. Ein weißer Lichtblitz
durchzuckt das vollkommen abgedunkelte Zimmer, kurz bevor
ein tief blauer Schimmer sich auf die Wände legt. Er
startet ein Spiel, er ruft seine Welt auf! Endlich in seine
Welt fliehen - und wenn Schopenhauer recht behalten sollte,
wäre es eh immer nur die seine, die von ihm vorgestellte
Welt, in die er sich begibt. Da sollte es egal sein, ob sich
ihm diese auf dem "Holo-Deck" realisiert. Das einzige
Ziel ist schließlich, der Held des eigenen Lebens zu
sein!
Während die neuen Welten heraufziehen, die nie ein Mensch
zuvor gesehen hat, unbekannte Universen das Zimmer erfüllen
und das Spiel M.´s Avatar in Stellung bringt, versinkt M.
in seinen Gedanken. Er fühlt sich wehrlos seinen Erinnerungen
ausgeliefert und sieht sich plötzlich - wie aus sich herausgetreten
- von außen, inmitten seiner ungezählten Kollegen und Kolleginnen
seiner Generation. Er erkennt seine einstigen Schulfreunde
und Betula, seine unvergessene Liebe und alle Gefährten seines
Lebens. Zusammen mit den Gesichtern seiner Generation, steht
er im Kreis um den spielenden M., beobachtend, wie der mit
aufgerissenen Augen paralysiert in drei große Bildschirme
starrt.
Gemeinsam
stimmen die Vielen ein Lied an. Sie singen und resümieren
über eine verspielte Generation, ihre Generation? Was ist
deren Rolle heute, als Teil der alten, analogen Welt, die
zu Ende geht und in der sie selbst die Letzten ihrer Spezies
gewesen sein sollten? In ihrer Liebe zum Fortschritt und ihrer
Unersättlichkeit am Guten und ihrer Begeisterungsfähigkeit
zur Illusion haben sie doch auch die Gadgets und Chips ersonnen,
die computergesteuert die Menschheit in die Globalisierung
beförderten. Sie haben ja tatsächlich ins Leben gerufen, was
in ihrer Kindheit noch als Science-Fiction galt. Und sie taten
es nicht einfach so, sondern weil in einer vernetzten Welt
der Zukunft niemand mehr den anderen als "Feind" bezeichnen
sollte. In den unendlichen Weiten des Universums sollte Leben
gefunden werden, das uns ungeahnte Erkenntnisse vermitteln
würde und dem wir im Gegenzug Liebe und Frieden lehren würden.
Ideale einer alten analogen Welt, die wir geradezu selbstverschuldet
zu Grabe getragen haben? Weil wir sie eigentlich hinter uns
lassen wollten, indem wir alles dem Fortschritt opferten,
allein um des Fortschritts Willen!?
Gemeinsam
singen sie von ihrem Zuhause, in dem sie unantastbar sind,
in das sie sich zurückziehen, und von der neuen, digitalen
Welt, dort draußen, in der sie die Ersten sind, die sie entdeckt
haben, ja eigentlich selbst kreiert haben, und dennoch nicht
ihre Gesetzmäßigkeiten verstehen und wahrhaben wollen? Die
Letzten sollen die Ersten sein! Doch was nützt es ihnen, wenn
die Ersten schlussendlich zu alt sind, um noch zu verstehen?
Sie fragen sich, wo war der Moment, als das Ende ihrer Individualität
- der Vielen - eingeleitet wurde? Ihre Chancen, Möglichkeiten
und Hoffnungen auf eine intelligente, moderne Welt enttäuscht
wurden, obgleich sie Teil und Ursache derer waren, die das
Neue wollten und dabei nur das Alte zerstörten?
Der
Chor verstummt, das Licht erlischt. Der Raum ist nur noch
wohliger Uterus. M.´s Mimik verzerrt sich angestrengt, er
verschmilzt mit seinem Avatar und mutiert zum Gamer. Für ihn
gelten nun nur noch die Befehle der Maschine: "Start the
game! Load the weapon! Break the score! Be the hero of your
game!" Aus den Lautsprechern dringen Detonationen, Motoren-
und Düsenlärm, das Zischen der Raumschiffe, die durch Raum
und Zeit schießen. Schüsse und Schreie, Schussfeuersalven
versetzen den Gamer in sein selbstgewähltes Inferno aus Feuer,
Blitzen, Rauch und Trümmern, das er beherrscht! M. kämpft
als The Gamer um sein Leben - hier ist er Gott!
»Our
Generation - Part One«
M.,
The Child
3. The Child
Der Gamer stürmt im Lichtkegel seiner
persönlichen Drohne durch die Gassen und Straßen
einer zerschossenen, menschenleeren Siedlung. Plötzlich
hält er inne. Aus einem der zertrümmerten Häuser
vermeint er einen Schrei oder ein Rufen gehört zu haben.
Er dringt in die Ruine des Wohnhauses, seine Drohne dicht
bei ihm, den Weg erhellend. Vielleicht lassen sich noch Zivilisten
retten. Hektisch kämpft er sich über Schutt und
durch Berge von Trümmern. Raum um Raum durchsucht er
die dunkle Behausung, die von Staub durchsetzte Luft erschwert
das Atmen und lässt keinen weiten Blick zu. Am Ende des
Flurs angekommen bricht er die letzte noch verschlossene Tür
auf.
Mit größtmöglicher Aufmerksamkeit stößt
er ins Dunkel vor. Seine Drohne zieht ihre Lichtspur durch
die Finsternis. In das Zimmer dringt langsam die Staubfahne
vom Flur herein. Im Lichtkegel seiner Drohne bemerkt er in
einer Ecke des Raumes eine Bewegung auf dem Boden. Er kann
sich gerade noch zurückhalten und unterlässt es,
seiner ersten Reaktion freien Lauf zu lassen und darauf zu
feuern. Er erkennt ein kleines Kind, das noch zu jung scheint,
um laufen zu können. Die Silhouette des Gamer zeichnet
sich im Licht der offenen Tür ab und muss für das
Kind erschreckend und Furcht einflößend sein. Doch
es krabbelt unbeeindruckt von der Situation auf einer zerfetzten
Matratze um ein Buch herum und deutet mit seiner kleinen Faust
darauf, als habe es den Gamer erwartet und wollte ihm etwas
zeigen.
Der Gamer wischt sich den Schweiß aus den Augen und
leuchtet die Ecke aus. Er legt seine Waffe ab und nähert
sich der Matratze. Das Kind will ihn offenbar ansprechen,
aber vermag noch keine Worte hervorzubringen. Der Gamer kniet
sich nieder, beugt sich zu dem Kind auf die Matratze und versucht
zu erkennen, worauf es die ganze Zeit hartnäckig hindeutet.
Im Schein der Lampe erkennt er, ein aufgeschlagenes, reich
bebildertes Buchs, welches das Kind ihm offensichtlich zeigen
will. Er setzt sich, nimmt das Kind in den Arm und legt sich
das Buch auf die Knie. Nach genauerem Betrachten der Darstellungen,
kommen ihm die Darstellungen seltsam vertraut vor. Er sieht
sich alles ganz genau an. Noch kann er nicht erinnern, wo
er sie schon einmal gesehen hat, ja er ist sich nicht einmal
sicher, ob er sie überhaupt je schon einmal gesehen hat.
Vielmehr schickt ihm jede der abgebildeten Situationen einen
Schauer über den Rücken. Alles ist sehr bekannt
und irgendwie innig vertraut, aber ohne sich ihres Anblicks
erinnern zu können.
Als könnte er diese Momente wieder spüren, die Gerüche
wahrnehmen und die Situationen erleben, so nah ist er den
abgebildeten Situationen. Augenblicke der Ewigkeit vergehen,
dann sieht er erschrocken zu dem Kind, das ihm jetzt ebenfalls
unheimlich vertraut erscheint. Spontan ergreift er dessen
Hand und klappt das Buch zu. Er will wissen, was er da in
Händen hält. Die neun goldenen, in Leder gravierten
Buschstaben auf dem Buchdeckel verraten ihm, es ist sein
"L i f e a l b u m".
Da sieht er das Kind erneut an und weicht erschrocken zurück.
Er ist drauf und dran aufzuspringen. Er erkennt sich in dem
Kind wieder. Es ist das Kind, das er - M. - vor langer Zeit
einmal war. Er sieht in seine Augen und sie sehen ihn
an. Er fühlt, wie sich Blicke treffen, die es nicht geben
dürfte. Das Kind öffnet ihm den Buchdeckel erneut
und stiert M. jetzt mit einem glühenden Blitzen in seinen
gar nicht mehr kindlichen Augen an und der unmissverständliche
Blick lässt jeden Widerwillen in M. vergehen. M. ist,
als müsste er sich übergeben, weil er weiß,
dass es jetzt kein Entkommen mehr gibt. Er begibt sich auf
die Reise durch das eigene ICH!